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Blicke hinter die Kulissen der Videoüberwachung

Kurzbericht über die Konferenz
«CCTV and Social control: the politics and practice of videosurveillance»
vom 8. und 9. Januar 2004 in Sheffield (UK)
 
zuhanden der SAGW, Januar 2004.

 


 

Blicke hinter die Kulissen der Videoüberwachung

Anfang Januar 2004 versammelten sich im englischen Sheffield Forscherinnen und Forscher aus verschiedenen Fachgebieten zu einer von Kriminologen organisierten Konferenz über soziale Auswirkungen der Videoüberwachung. Christoph Müller besuchte die Tagung (auf dem Landweg) und wurde dabei von mindestens tausend elektronischen Augen begleitet.

von Christoph Müller (*)

 

Überwachungskameras sind weit verbreitet. Sie finden sich in Läden und Einkaufszentren, an stark frequentierten Transitorten wie Bahnhöfen und Flugplätzen oder zur Beweissicherung bei Geldautomaten. Im Zürcher Hauptbahnhof sind rund 80 CCTV-(Closed Circuit Television)-Kameras in Betrieb, mit denen die Kantonspolizei und die Bahnpolizei (bzw. die «Securitrans») den öffentlich zugänglichen Raum überwachen können. Der Hauptzweck der Anlage besteht darin, Verkehrsflüsse zu beobachten und allfällige Einsätze zu planen.

Auch der Pariser Gare du nord wird überwacht. Hier sind die Kameras aber nicht nur auf den Raum als solchen gerichtet, sondern zielen auch auf einzelne Menschen: Die Kameras sind an strategischen Punkten montiert, an Türen und Durchgängen oder oberhalb von Rolltreppen. Der Eingang zum Eurotunnel gehört wohl zu den am besten bewachten Orten in Kontinentaleuropa: Stacheldrahtzäune, Polizeipatrouillen, Kameras und eine Reihe weiterer Sensoren versuchen zu verhindern, dass Menschen durch den Tunnel nach Grossbritannien fliehen.

In London sind die Kameras nicht auf besonders bedrohte Orte gerichtet, sondern beobachten grossflächig den öffentlich zugänglichen Raum. In einer kürzlich publizierten Hochrechnung wird geschätzt, dass in der britischen Hauptstadt rund eine halbe Million CCTV-Kameras den öffentlich zugänglichen Raum überwachen (inkl. Läden). Dies entspricht einer Kamera pro 14 Einwohner. Für ganz Grossbritannien wird die Anzahl Kameras auf mindestens 4,2 Millionen geschätzt (1).

Grossbritanniens «fears of crime»

Die Verbreitung stieg vor allem in den vergangenen zehn Jahren exponentiell an, nachdem das britische Innenministerium seit 1994 mehr als 200 Mio. Pfund für die Errichtung von CCTV-Systemen freigegeben hatte -- zunächst unter einer konservativen Regierung, dann unter «New Labour». In einzelnen Jahren stellte das «Home Office» drei Viertel seines Budgets für Kriminalitätsbekämpfung für Kameraüberwachungen bereit -- ein beachtlicher Markt! Mit dieser finanziellen Unterstützung richteten die meisten britischen Stadtregierungen und «councils» sogenannte «Open street CCTV-Systeme» ein.

Zur Ausbreitung trugen weitere Elemente eines günstigen Umfelds bei. So fehlen in Grossbritannien rechtliche Einschränkungen zum Einsatz von CCTV. Zudem dominiert eine individualistisch und situationistisch geprägte Konzeption von Kriminalität (im Sinne von: «Gelegenheit macht Diebe»), während soziale Faktoren vernachlässigt werden.

Von entscheidener Bedeutung war schliesslich auch die Entführung und anschliessende Tötung des zweijährigen James Bulger aus einem Einkaufszentrum in der Nähe von Liverpool im Februar 1993. Das in allen populären Medien verbreitete Bild der Überwachungskamera, das die beiden jugendlichen Entführer Hand in Hand mit dem Zweijährigen zeigt, wurde zu einer Ikone für eine gefährliche, brutale Gesellschaft. CCTV erschien als «technological fix» für soziale Probleme.

Auch in Sheffield werden Strassen und Plätze mit Einkaufsläden, Restaurants und Pubs mit einem umfassenden «Open Street CCTV» überwacht, ausgerüstet mit robusten, schwenkbaren Kameras mit Zoom-Funktion. An der Universität Sheffield werden auch die Innenräume beobachtet, die Türen, die Eingänge, die Mensa. Schilder weisen darauf hin, dass dies zu unserer Sicherheit erfolge -- und erinnern uns daran, dass wir uns in einem potenziell gefährlichen Gebiet befinden. An dieser Universität versammelten sich Anfang Januar rund 80 Forscherinnen und Forscher aus Europa, USA, Kanada und Australien zu einer Konferenz über die sozialen Auswirkungen von CCTV-Systemen.

Parallel zur Installation von CCTV-Systemen entstand in Grossbritannien eine sozialwissenschaftliche Forschung zur Kameraüberwachung, zunächst im Bereich der Kriminologie. Im Vordergrund standen zunächst Fragen nach der Effizienz: Wie wirken sich CCTV-Systeme auf Kriminalitätsraten und auf die wahrgenommene «Angst vor Kriminalität» aus? Die Ergebnisse von Evaluationen in mehreren Städten sind widersprüchlich: CCTV kann zwar -- ähnlich wie Strassenbeleuchtung -- unter bestimmten Voraussetzungen und mit begleitenden Massnahmen zu einer Reduktion der Kriminalitätsraten beitragen. In anderen Fällen wurden hingegen Verlagerungen festgestellt.

Die soziale Konstruktion des Verdachts

Nach ersten Evaluationsforschungen wurde die Fragestellung ausgeweitet auf die Auswirkungen der Kameraüberwachung auf ein breiteres Publikum: Führt CCTV zur Anpassung des Verhaltens in öffentlichen Räumen? Wer wird von den «Operators» beobachtet und aus welchen Gründen? Beobachtungen in Kontrollräumen ergaben, dass viele Observierungsmuster sich auf klassische Vorurteile und Diskriminierungen stützten: Im Fokus standen vorwiegend jugendliche Männer, und zwar nicht aufgrund konkreter begangener Delikte, sondern oft alleine aufgrund ihres Aussehens oder Verhaltens. Es sind also mithin oft kategoriale, auf Stereotypen basierende Gründe, die zu einer Beurteilung als «Verdächtige» und mithin zu einer Ausschliessung führen. Zudem verleitet die meist überaus langweilige, schlecht bezahlte Arbeit in den Kontrollräumen zu voyeuristischem Verhalten der «operators», insbesondere mit einem Fokus auf Frauen. Die Forschungsperspektive wurde in der Folge ausgedehnt auf Aspekte des Trainings und auf Fragen nach einer «good practice» der Kameraüberwachung.

«Sehen und gesehen werden»

Seit einigen Jahren entsteht auch ausserhalb Grossbritanniens eine interdisziplinäre und internationale Forschung zu Videoüberwachung, etwa das von der EU geförderte Projekt «Urbaneye» (ohne Schweizer Beteiligung) oder die online-Zeitschrift «Surveillance and Society», die verschiedene Strömungen zusammenzuführen versuchen. CCTV ist zu einem multidisziplinären Forschungsfeld geworden, das Kriminologie, Soziologie, Politologie und Geographie umfasst, teilweise auch Rechtswissenschaften, Psychologie, Geschichte, Ethik und Kultur- bzw. Medienwissenschaften.

Ins Blickfeld gelangten damit auch grundsätzliche Fragen nach den Auswirkungen von permanenter CCTV-Kontrolle auf die «Sphäre der Öffentlichkeit» oder nach der Bedeutung von Bildern in der heutigen Bild(schirm)-Kultur. So werden die viel beschworenen «fears of crime» oft gerade durch medienvermittelte Bilder erst geschaffen und verstärkt. Und es besteht eine Ambivalenz zwischen den Ängsten vor dem Beobachtet werden und dem gleichzeitigen Bedürfnis, sich zur Schau zu stellen. Exhibitionistische TV-Shows oder Webcams sind dabei bloss extreme Ausprägungen -- Beobachtung und soziale Kontrolle erfolgen bei weitem nicht nur in mediatisierter Form. «Sehen und gesehen werden» bildet auch ausserhalb von TV und Internet ein eng miteinander verknüpftes Begriffspaar. Frei nach Dürrenmatt: «Schlimmer als beobachtet zu werden ist eigentlich nur, nicht be(ob)achtet zu werden.»

Automatisierung, Individualisierung und Kommerzialisierung

Neben der zunehmenden Vernetzung von Kamerasystemen (und generell von Sensor-Systemen) sind mit der Automatisierung, der Individualisierung und der Kommerzialisierung drei Trends in der Entwicklung von CCTV festzustellen. Das permanente Beobachten von Kontrollbildschirmen ist nicht nur langweilig, anstrengend und ermüdend, sondern auch ineffizient. Um die Überwachung zu rationalisieren wird deshalb nach automatisierten Lösungen gesucht. Die digitalisierten Bilder werden durch spezielle Software nach Mustern abgesucht. Diese werden entweder mittels Algorithmen mit einer definierten «Normalität» verglichen. Abweichungen lösen dann einen Alarm aus, beispielsweise das «abnormale Verhalten» einer Person auf einem Parkplatz.

In einer anderen Anwendung werden die Muster als Objekte definiert und mit einer Datenbank verglichen. Bereits heute werden in einer Einzelanlage am Zürcher Sihlquai die Kennzeichen der vorbeifahrenden Autos automatisch mit der RIPOL-Datenbank verglichen. Als grossflächiges System ist eine solche automatische Nummernschilderkennung seit Februar 2003 in London in Betrieb, um den Zugang von Autos zur Innenstadt zu kontrollieren. Schwieriger als das Erkennen von standardisierten Nummernschildern erweist sich die automatische Gesichtserkennung. In einem grossen Stadion in den USA, in der englischen Stadt Newham und am Flughafen Kloten wurde (und wird) jeweils versucht, Gesichter aus einer Masse heraus automatisch mit einer Datenbank zu vergleichen. Diese biometrischen Systeme sind allerdings bislang noch kaum praxistauglich. Mobiltelefone, RFID-chips, Kreditkarten und Kundenbindungsprogramme eignen sich zum Zwecke des «Trackings» einzelner Individuen wie auch für sogenannte «Rasterfahndungen» bislang besser.

Der dritte grosse Trend besteht in der Kommerzialisierung der (Bild-)Daten, zum einen zu Marketingszwecken, sei es als kollektive Überwachung von Menschenströmen in Einkaufszentren oder als individuelles Tracking zum Erstellen von «Profilen». Zunehmend werden Bilder aus Überwachungskameras aber auch ganz simpel zum Zwecke der Unterhaltung an Zeitschriften und TV-Sender verkauft: «Die lustigsten Missgeschicke im Einkaufszentrum».

Nach einer Einschätzung des kantonalen Zürcher Datenschutzbeauftragten Bruno Baeriswyl verbreitet sich CCTV auch in der Schweiz inzwischen «wie eine Seuche». Der Staat ist dabei nur einer von vielen Akteuren, und nicht der wichtigste. Die Ausbreitung der mediatisierten visuellen Überwachung wird verstärkt durch die Verfügbarkeit von günstigen digitalen Videokameras, vor allem durch Webcams (mitsamt den sogenannten «Nannycams» zur Überwachung von Kinderzimmern) und bildfähigen MMS-Mobiltelefonen, mit denen zunehmend auch Bilder aus bislang als privat geltenden Bereichen in Wohnungen, an Arbeitsplätzen oder in Garderoben aufgezeichnet und übermittelt werden.

Die Grenzen zwischen «privaten» und «öffentlichen» Bereichen verwischen allmählich. Ein Grund zu Paranoia? Eher ein deutlicher Hinweis auf die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Bedeutung von öffentlicher und privater Sphäre, mit Fragen nach dem Zugang zu archivierten Bildern, nach dem «Recht auf das eigene Bild» und nach unserem Umgang mit Bildern überhaupt.

 

(*) Christoph Müller ist Soziologe in Zürich und befasst sich u.a. mit «Kontrolle und Überwachung».
<muellerc__ at __ socio5.ch>

 

Links:

Tagung «CCTV And Social Control: The Politics and Practice of Video-surveillance - European and Global Persepectives», Sheffield (UK), 8./9. Januar 2004.

(1) Michael McCahill and Clive Norris, Urbaneye working paper nr. 6, June 2002, unter http://www.urbaneye.net

(2) Online-Journal «Surveillance and Society».

 


 

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